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Den Erfolg von Shades of Grey verstehen und würdigen

Genreanteil Nummer 3: Sex & Erotik
Märchen mit Erotik für ein Massenpublikum? Geht eigentlich gar nicht, oder?
Jugend-Thema Erste Liebe trifft auf verruchte BDSM-Sexspielchen. Geht doch auch nicht. Eigentlich …
Für ihre Fanfiction zu Twilight mit dem Titel The Master of the Universe erntete E.L. James, damals unter dem Pseudonym  Snowqueens Icedragon aktiv, jedenfalls Kritik, als sie die Figuren Edward und Bella BDSM-Praktiken vollziehen ließ. Das Problem lag aber rückwirkend betrachtet nicht an dem generellen Versuch, sondern daran, dass die Fans von Twilight sich ihre Figuren nicht unbedingt so vorstellen wollten. Twilight sollte Twilight bleiben. Diese Einstellung konnte man ihnen ja auch nicht verübeln.

Sie hat diesen Weg ausgebaut, und die Hochgefühle für die erste Liebe und die weibliche Faszination für Märchen (der tolle Prinz, den man haben möchte) in die Erwachsenenwelt übertragen. Das BDSM ist praktisch das Totschlagargument, dass Märchenträumereien hier nicht mehr als kindhaft und  Teenie-Liebesgeschichten nicht mehr als jugendhaft angesehen werden können. Die Ironie an der Geschichte ist, dass das BDSM in Shades of Grey in der Tat eine Art Befreiungsakt für Frauen darstellt, aber nicht nur in dem Sinne, in dem die Befürworter dieser These es eigentlich gemeint haben. Ein Cinderella-Märchen befreit davon, nur kindisches Wunschdenken zu sein, eine Erste-Liebe-„Teenie“-Geschichte befreit von dem Stempel, nur naive Jugendschwärmerei oder gar Fantasy (Twilight) zu sein. Na, wenn das für viele Frauen nicht eine verlockende Vorstellung ist …
Doch damit soll es sich nicht erschöpfen. Man kann es ja noch steigern. Denn ein weiteres Genre wird in Shades of Grey mitaufgenommen:

Genreanteil Nummer 4: Psychothriller
Als Leser/Zuschauer spürt man von Anfang an, dass Christian Grey einen psychischen Knacks hat. Und Ana steht der Gefahr gegenüber, mindestens emotional schwer verletzt zu werden. Dieser Thrill ist deshalb so wichtig, weil abermals eine Grenze klar überschritten wird. Es geht nicht nur darum, ein Märchen und eine Erste-Liebe-Geschichte von ihrer Kind- und Jugendträumerei loszulösen, sie erwachsener zu machen, und BDSM wäre nichts weiter als das Mittel dazu. Hier wird thematisiert, dass die Praktiken des BDSM vor allem eins voraussetzen, um nicht in einem Desaster zu enden: Vertrauen zwischen den Partnern. Aber genau das ist das Problem. Der Leser/Zuschauer traut ihm nicht voll und ganz. Das BDSM steht passend zum Titel für eine Grauzone. In Shades of Grey handelt nicht nur davon, wie viele charakterliche Facetten Christian innehat, sondern auch, auf welchem Punkt der Grauskala er sich bewegt. Anastasia hofft auf den wundervollen guten Kern in Christian, und sie hat durchaus Anlass dazu. Immerhin verhält er sich romantisch, auch wenn er selbst gar so wirken will. Aber wie viele Frauen haben schon bei ihren Partnern dasselbe gedacht? Ihnen Zugeständnisse gemacht über ihre eigentliche Toleranzgrenze hinaus? Und letzten Endes bei der abschließenden Erkenntnis zu landen, dass im Kern seines Herzens keine freundliche Sonne entgegen strahlte, sondern ein egozentrisches Arschloch die Zunge hinausstreckte? Vermutlich Millionen (Natürlich kann umgekehrt genauso davon ausgegangen werden).
Diese Frauen können Anas Unsicherheit mitfühlen, nicht, weil sie so toll dargestellt würde, sondern ich denke, weil die Leserinnen und Zuschauerinnen sich selbst ebenso mit einem vergleichbaren Dilemma auseinandersetzen mussten. Das BDSM steht speziell in Shades of Grey als Metapher für eine generelle potenzielle Beziehungsproblematik. Gewiss, ein bisschen Spanking, ein bisschen Bondage, etwas Dirty Talk, ein wenig „Disziplinierung“ kann aufregend sein. Ein bisschen Trinken kann auch lustig sein, ein bisschen Zocken im Casino nett, ein bisschen Zurückhaltung sogar süß. Aber wenn der Genusstrinker immer mehr zu einem Alkoholiker mutiert oder ein Mann alle Ersparnisse und darüber hinaus im Casino verbrennt oder seine Zurückhaltung sich zu einer Eiswand oder, viel schlimmer, zu einer Todeslangweile entwickelt u.s.w., dann kann die Partnerin einen schweren Leidensweg durchmachen – und ihn, den Schmerz, bei Anastasia prinzipiell nachvollziehen.
So sagt Christian Grey im Roman auch:
»Beziehungen wie diese beruhen auf Ehrlichkeit und Vertrauen«, fährt er fort. »Wenn du mir nicht vertraust, dass ich genau weiß, wie weit ich mit dir gehen und was ich dir zumuten kann, und du mir gegenüber nicht ehrlich bist, hat das Ganze keinen Zweck.« (Shades of Grey, Geheimes Verlangen, Deutsche Erstausgabe 2012, Seite 241)
Weiterhin ist auch diese Stelle aufschlussreich: »Er (Anm.: Christian) verfällt in einen stetigen Rhythmus: streicheln, tätscheln, schließlich ein kräftiger Schlag.« (S. 313) Die Abwechslung zwischen Schmerz und Wohlsein empfindet Ana letztlich nicht nur beim Spanking, sondern generell mental und emotional in der Beziehung zu ihm.
Sogar Ana selbst denkt: »Diese BDSM-Sache ist nur eine Ablenkung vom eigentlichen Problem.« (S. 549/550) Deutlicher kann es ja nun wirklich nicht im Buch stehen, wie das Thema BDSM im Roman mithin zu beurteilen ist.
Ich denke, diesen Aussagen versinnbildlichen die Grundproblematik, um die es in der Geschichte geht, und nicht nur die Frage, welches Sexspielzeug am meisten Lust bereitet.

Ich denke, viele Leserinnen/Zuschauerinnen leiden mit Ana mit. Nicht wegen ihrem Leid speziell, sondern weil in ihnen selbst unliebsame Erinnerungen hochkommen. Aber gerade, weil es als Geschichte thematisiert wird, fühlen sie sich auch verstanden.
Und genau deshalb berührt diese Geschichte gewiss nicht alle, aber eine gewaltige Anzahl an Frauen. Sie erleben ihren eigenen unterschwelligen, kleinen Psychothrill nach. Und das zieht (die Buchverkäufe und Kinobesuche nach sich).

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